Software und Strategien für den erfolgreichen Mittelstand

Im Interview: Karl Tröger, Produktmanager PSIPENTA Software Systems GmbH

Industrie 4.0 und die Auswirkungen auf ERP-Systeme

Karl Tröger, Produktmanager PSIPENTA Software Systems GmbH: ERP-Systeme werden ihre Funktion als Leitsysteme behalten, aber eine stärkere Integration in Softwaresysteme auf Werkstatt- bzw. Maschinenebene sowie die Öffnung für Fremdsysteme ist künftig nötig.“

In der Fabrik der Zukunft sollen Werkstoffe selbständig mit Maschinen kommunizieren, Maschinen wiederum werden untereinander in ständigem Austausch stehen. Bei diesen Szenarien denkt man nicht gleich an Enterprise Ressource Planning- oder Manufacturing Execution-Systeme. Doch ERP- und MES-Anbieter, wie die Berliner PSIPENTA Software Systems GmbH, positionieren sich ebenfalls in diesem Umfeld. Solutions for Business (S4B) sprach mit dem Produktmanager bei PSIPENTA, Karl Tröger, darüber, wie sich Unternehmenssoftware verändern muss und welche Antworten der Berliner Fertigungsspezialist auf die Herausforderungen der Fabrik der Zukunft hat.

Veränderungen

S4B: Herr Tröger, ehe wir auf die konkreten Auswirkungen der vierten industriellen Revolution auf Unternehmenssoftware, also Ihr Spezialgebiet, zu sprechen kommen, schildern Sie doch bitte kurz, wie aus Ihrer Sicht „Industrie 4.0“ die Unternehmenslandschaft verändern wird?
Tröger: Wenn sich deutsche Unternehmen heute intensiv im Umfeld der Entwicklungen rund um Industrie 4.0 engagieren, dann vor allem deshalb, weil Deutschland als Hochlohnland wettbewerbsfähig bleiben will bzw. muss. „Der Kunde ist König“ hat in der Industrie angesichts der Atomarisierung der Nachfrage und der Bemühungen der Unternehmen diese zu erfüllen, eine fast buchstäbliche Bedeutung. Durch die immer individuelleren Kundenwünsche wächst die Variantenvielfalt, immer häufiger muss in Stückzahl 1 produziert werden. Das hat weitreichende Auswirkungen auf Unternehmensabläufe, die nur bewältigt werden können, wenn Prozesse nicht nur horizontal, sondern vor allem auch vertikal – bis auf Automatisierungsebene – integriert werden. Um diese hohe Variantenvielfalt noch wirtschaftlich stemmen zu können, bedarf es äußerst agiler Unternehmen. Das wird nur durch die Schaffung kleinerer Einheiten und die Zusammenarbeit bis hin zur gemeinsamen Wertschöpfung verschiedener Firmen realisierbar sein.

S4B: An welcher Stelle kommt hier PSIPENTA ins Spiel?
Tröger: Durch die Vernetzung verschiedener Unternehmen und die Notwendigkeit einer Kommunikation der vielen verschiedenen Softwaresysteme liegen die großen Herausforderungen vor allem in der Entwicklung offener Schnittstellenstandards, wie zum Beispiel in dem Forschungsprojekt WInD angestrebt, und natürlich in der Bewältigung großer Datenmengen in Echtzeit. Hochauflösende und agile Produktionssteuerungssysteme sind auf die Bewertung der Produktionsdaten in Echtzeit angewiesen. Es geht nicht mehr nur, wie heute praktiziert, um die Etablierung eines Berichtswesens und die Beurteilung einer Situation quasi „post mortem“. Die gewonnenen Informationen steuern und optimieren die Produktionsprozesse. Unternehmenssoftware muss die notwendige Flexibilität bei gleichzeitiger Ressourcenschonung und eine Kommunikation zwischen verschiedenen Firmen unterstützen bzw. vereinfachen. Denn die Komplexität dieser Vernetzung ist ohne IT gar nicht denkbar.

S4B: Wie genau werden sich Ihre Produkte – Sie platzieren sich ja als ERP- und MES-Spezialist – verändern müssen?
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass Enterprise-Ressource-Planning-Systeme ihre Funktion als Leitsysteme behalten werden, jedoch eine eben stärkere Integration in Softwaresysteme auf Werkstatt- bzw. Maschinenebene und die bereits erwähnte Öffnung zu Fremdsystemen vonnöten ist. Sicher werden diese Systeme auch agiler und flexibler werden. Die IT-Welt von heute widerspiegelt die derzeitige Situation der Produktion. Wir sehen große und mächtige Werkzeuge mit enormen Funktionsumfängen. Möglicherweise wird es hier eine Veränderung hin zu smarten Softwarelösungen mit überschaubarem Funktionsumfang geben.

Forschungskooperation

S4B: Sie erwähnten gerade im Zusammenhang mit der Schnittstellenstandardisierung das Forschungsprojekt WInD. Was genau verbirgt sich dahinter?
Tröger: Das übergeordnete Ziel des Projekts des Forschungsinstituts für Rationalisierung an der RWTH Aachen ist die Konzeption eines wandlungsfähigen Produktionssystems. Das ist übrigens auch der Titel des Projekts: „Wandlungsfähige Produktionssysteme durch integrierte IT-Strukturen und dezentrale Produktionsplanung und -steuerung“. Dabei soll insbesondere die Koordinationsfähigkeit in Produktionsnetzwerken signifikant gesteigert werden. Eines der Teilziele ist der Entwurf von standardisierten, prozessorientierten Schnittstellen zwischen den beteiligten IT-Systemen, die in der gesamten Prozesswelt eines Unternehmens eingesetzt werden können: also die Integration von PLM-, ERP- und MES-Systemen. Ein weiteres Teilziel besteht im Aufbau einer modularen Planungs- und Steuerungslogik sowie in der Identifikation von Schwellwerten zum situativen Wechsel von Planungs- und Steuerungsmethoden in ERP-Systemen. Auch das sind Herausforderungen an Softwarehersteller, die wir im Zusammenhang mit der Fabrik der Zukunft gerade diskutiert haben. WInD wird daher in der Forschung und Industrie auch als wichtiger Wegbereiter für die „4. industrielle Revolution“ gewertet.

S4B: Offen gestanden klingen trotz allem viele „Industrie 4.0-Szenarien“ noch eher nach Zukunftsmusik. Welche Etappenziele haben Sie denn schon in der Praxis erreicht?
Tröger: Wenn wir ehrlich sind, viele Ideen sind gar nicht so neu. Die größte Herausforderung der „4. industriellen Revolution“ besteht aber eben in der Integration der verschiedenen Ansätze und „Etappenziele“, wie Sie es nennen. PSIPENTA ist vor allem in Sachen bedarfsorientierte Produktionssteuerung schon einen großen Schritt voraus. So wird bei Kunden wie Fibro, GEMÜ oder Läpple die Produktionssteuerung automatisch anhand sich ändernder Bedingungen ausgeregelt. Das reduziert die Durchlaufzeiten, schont Ressourcen, sorgt für maximale Transparenz und ermöglicht zuverlässige Lieferterminaussagen. Und auch der im Forschungsprojekt WInD entwickelte Ansatz eines Schnittstellenstandards ist natürlich ein erreichtes Etappenziel auf dem Weg zu mehr Offenheit der Softwaresysteme.

S4B: Wenn wir gerade bei konkreten Projekten und damit auch bei den tatsächlichen Anwendern sind, fällt mir noch ein weiteres Thema ein. Mehr denn je wird durch die Vorstellung „intelligenter Fabriken“ die alte Angst davor geschürt, der Mensch könne in der Fertigung immer überflüssiger werden. Auch die Einführung von Unternehmenssoftware im ganz klassischen Sinn verbinden viele Menschen mit der Einsparung von Arbeitsplätzen. Sind solche Befürchtungen berechtigt?
Tröger: Nein, das denke ich nicht. Tatsächlich ist „Industrie 4.0“ als ein gesamtgesellschaftliches Zukunftskonzept zu verstehen, sozusagen „Gesellschaft 4.0“, bei dem der Mensch – vielleicht mehr denn je – im Mittelpunkt steht. Ganz sicher werden sich die Profile bestimmter Berufsbilder verändern bzw. gänzlich neue entstehen. Fakt ist auch, dass die steigende Variantenvielfalt bei kurzen Lieferzyklen und gleichzeitig immer weniger zur Verfügung stehenden Fachkräften eine zusätzliche Herausforderung für viele Unternehmen darstellt. Zu vergessen ist zudem auch nicht, dass die zukünftige urbane Produktion näher an die Wohnungen der Menschen rücken muss. Als Stichwort sei hier Work-Life-Balance genannt.  Sie sehen also: der Mensch wird nicht verdrängt, ganz im Gegenteil – seine Bedürfnisse müssen bei der Planung von Unternehmen in Zukunft viel stärker berücksichtigt werden.

Zukunft

S4B: Vor dem Hintergrund der sogenannten vierten Revolution: Wie stellen Sie sich PSIpenta ERP bzw. MES in 20 Jahren vor?
Tröger: Eine wirklich schöne Frage! Nach einem langen Blick in die Glaskugel würde ich prognostizieren, dass es Systeme mit dem heutigen Zuschnitt gar nicht mehr geben wird. Schon heute haben wir Schwierigkeiten, die Systemgrenzen von ERP und MES sowie weiteren Bausteinen einer Unternehmenssoftware zu definieren. Die Standardisierung der Interaktion von Produktionssystemen wird weit fortgeschritten sein. Dezentrale Intelligenz steuert die Produktion. Die Automatisierungstechnik wird weit mehr Fähigkeiten haben als heutige Sensoren und Aktoren mit den entsprechenden Steuerungen. Über die verschiedenen Ebenen der IT-gestützten Planung und Steuerung werden die Prozesse auf andere Weise beeinflusst. Wir werden bis zu einem gewissen Grad autonome und selbstregulierende Systeme vorfinden, die über ein Medium – vielleicht heißt es dann noch Internet – mit Standards kommunizieren. So, wie das Internet ohne eine zentrale Steuerung auskommt, werden zukünftige Produktionssysteme – übrigens immer noch von Menschen kontrolliert – ebenfalls in einem übergeordneten Netzwerk weitgehend automatisiert kooperieren. Heutige Systemkonzepte sind damit komplett überfordert. Es wird, so meine Prognose, Services geben, die bei Bedarf bezogen und genutzt werden. Dafür gibt es auch schon einen Begriff: Internet der Services. So wie zukünftig Unternehmen „production as a service“ anbieten, werden wir sicher auch Planungs- und Steuerungsintelligenz für den Einsatz in der Fabrik der Zukunft als Service  anbieten. Vielleicht sprechen wir dann von „intelligence as a service“ …

Rainer Huttenloher