Software und Strategien für den erfolgreichen Mittelstand

Expert Talk mit Godelef Kühl, godesys AG, zu ERP 2020

„Digitalisierung ändert die kompletten Wertschöpfungsketten“

Godelef Kühl, godesys AG

Digitalisierung der Unternehmen – so lautet das Schlagwort für die anstehende Transformation: Doch wie muss ein ERP-System aufgebaut sein, um hier keine „Bremse“ darzustellen? Godelef Kühl, Vorstandsvorsitzender der godesys AG, erklärt im Interview mit dem Midrange Magazin (MM), welche Änderungen für ERP-Systeme der Zukunft von Bedeutung sind.

Für ihn lautet der wichtigste Punkt im Kontext Digitalisierung der Unternehmen: Es handelt sich nicht nur um einen technischen Aspekt. Nach seiner Einschätzung geht es in erster Linie um die sozialen Auswirkungen in den Betrieben. Und damit sieht er die Wertschöpfungsketten eng verknüpft.

Auswirkungen

MM: Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf die ERP-Systeme in den Unternehmen?
Kühl: Für mich lautet der wichtigste Punkt im Kontext Digitalisierung der Unternehmen: Es handelt sich dabei nicht nur um einen technischen Aspekt. Nach meiner Einschätzung geht es in erster Linie um die sozialen Auswirkungen in den Betrieben. Denn durch die Digitalisierung werden sich in erster Linie die Wertschöpfungsketten eines Unternehmens ändern – und das hat vor allem soziale Auswirkungen.

MM: Was bedeutet das konkret?
Kühl: Wir schauen heute vor allem auf technische Argumente und beziehen uns auf kurzfristigen Nutzen. Doch so nutzen wir nur ein Fragment des gesamten ERP-Potenzials. Zudem haben bestimmte Branchen immer noch großen Informationsbedarf, denn vielen sind die umfassenden Möglichkeiten der Digitalisierung noch gar nicht so recht bewusst.

MM: Der VDMA und andere Verbände sind in Sachen ERP 2020 sehr aktiv und zeigen auch in Show Cases auf, was sich dahinter verbirgt, wo die Fallstricke lauern. Reicht das nicht aus?
Kühl: Das sind Schritte in die richtige Richtung, führt aber nach meinem Verständnis erneut zu einer nur punktuellen Betrachtung. Entscheidend ist doch, dass sich ein Unternehmer mit der Zukunft seines Geschäfts auseinandersetzt. Es gilt die Frage zu klären: Wie verändert sich die ganze Wertschöpfungskette. Das ist für mich der entscheidende Punkt.

MM: Passen die traditionellen Geschäftsabläufe noch, die wir bisher immer als Ausgangsszenarien für den Einsatz von ERP-Systemen definiert haben?
Kühl: Nein, das wird nicht mehr so recht funktionieren. Wir haben in Deutschland einen stark „ingenieursgetriebenen Ansatz“, wenn es um den Einsatz von ERP-Software geht. Oftmals dreht sich alles um die Frage, ob bestimmte Features von der Software abgedeckt werden. Mit diesem etablierten Verfahren kommt man in vielen Bereichen auch noch sehr gut ans Ziel, doch es lassen sich nicht alle Punkte abdecken, die im Zuge der Digitalisierung möglich sind. Heute geht es vielmehr um die Positionierung beim ERP-Einsatz: Will man eine Plattform betreiben – im Sinne von „Ich will eine Plattform, die ich selbst handeln kann und die eine Konnektivität mit Kunden und Lieferanten anbietet“ – oder möchte ich innerhalb eines bestehenden Netzwerks einfach nur die Rolle eines Konnektors übernehmen. Dabei handelt es sich um eine entscheidende Weichenstellung. Denn im letzteren Fall kann man sehr gut mit einer Cloud-basierten Lösung zurechtkommen.


Unternehmensübergreifend

MM: Somit bezieht sich ein ERP-System der Zukunft nicht mehr in erster Linie auf das eigene Unternehmen, sondern weitaus mehr noch auf die komplette Prozessabdeckung von den Lieferanten bis hin zu den Kunden?
Kühl: Ja, so könnte man das formulieren. Wir fassen bei godesys die Digitalisierung unter drei „Cs“ zusammen: Content, Communication und Commerce. Content im Web wird über CMS gepflegt. Doch diese Systeme sind immer nur partiell benutzbar. Jedes System bedient lediglich einen anderen Nischenaspekt von dem, was Content letztendlich bedeutet.

MM: Können sie dazu ein Beispiel geben?
Kühl: Wenn man ein Produkt vertreiben möchte, muss man es standardisieren, bebildern und mit einer Beschreibung versehen. Dabei stellt sich die Frage, wo sollen diese Daten liegen? Denn wenn ein Sensor Daten liefert, ist das eine Art von Content. Wichtig ist eine zentrale Stelle, bei der die Fäden zusammenlaufen, der „Single Point of Truth“. Das kann das ERP-System liefern als der Master. Das ist neben der Abbildung der Geschäftsprozesse der Mehrwert eines ERP-Systems.

MM: Müsste im Zuge einer Stammdatendefinition dieses Konzept entsprechend abgebildet werden?
Kühl: Ja – wir haben zum Beispiel eine Checklistenfunktionalität in unserem ERP-System. Damit kann der Anwender Stammdatenkataloge erstellen, die zu seinen Anforderungen passen. Hier müssen dann weitere Systeme angebunden werden können, denn das ERP-System kann nicht auch noch alle Funktionen zum Beispiel eines Produkt-Informationssystems übernehmen. Dazu müssen offene Schnittstellen zur Verfügung stehen, wobei eines sehr wichtig ist: Die Systeme sollten nicht nur vom Spezialisten zu beherrschen sein, auch der „digitale Handwerker“ muss in der Lage sein, die gängigen Funktionen bedienen zu können.

MM: Für wen sind diese Trends relevant – nur für die Zulieferer von einzelnen Großabnehmern wie beispielsweise VW?
Kühl: Es ist längst Standard, dass die Zulieferer in die Lieferkette bei einem Fahrzeughersteller eng eingebunden sind. Doch ein Zulieferer möchte sich auch in anderen Netzwerken etablieren können – etwa bei der Konkurrenz, wie Mercedes oder BMW. Da sehen die Netzwerke dann aber unter Umständen ganz anders aus.

Big Data und ERP2020

MM: Welche Rolle spielt das Big-Data-Problem beim ERP-System der Zukunft?
Kühl: Wer Daten sammeln und daraus Erkenntnisse gewinnen möchte, der muss viel standardisieren – auch automatisieren. Da gehören Prozesse wie EDI-Datenaustausch dazu. Doch das entscheidende bei Big Data ist für mich, dass eine „digitale Intelligenz“ vorhanden sein muss, die darauf hinweist, wenn zum Beispiel etwas aus dem Ruder läuft.

MM: Geht das auch in Richtung Sicherheit auf Anwendungsebene?
Kühl: Das Thema Sicherheit ist enorm wichtig, doch es stellt sich die Frage, wie müssen die ERP-Systeme abgesichert werden. Die üblichen Vorkehrungen, wie VPN-Zugriff oder Firewalls, reichen keineswegs aus. Das haben wir beim godesys ERP bereits realisiert.

MM: Können Sie das verdeutlichen?
Kühl: Ja, bei der Prozessautomatisierung wird zum Beispiel ein Vorgang über eine Workflow-Engine abgewickelt. Innerhalb dieser Engine sind Prüfungen vorzusehen, die logische Entscheidungen treffen und selbstständig entscheiden, ob ein Prozessschritt freigegeben wird oder nicht. Ein einfaches Beispiel ist die Freigabe eines Auftrags, bei dem ein bestimmter Deckungsbeitrag in der Kalkulation unterschritten wird. Das darf dann nur die Vertriebsleitung freigeben.

MM: Derartige Konzepte finden sich in vielen ERP-Systemen. Was muss anders werden, wenn man damit in Industrie-4.0-Szenarien geht?
Kühl: Nehmen wir dazu das Beispiel „Bestellung von Produktionsmaterial“. Wenn es sich um eine selbst versorgende Nachschubsteuerung handelt, die meldet, dass der Materialbestand zu gering ist, bestellt diese Einheit automatisch Material nach. Wenn dann eine dritte Seite Sabotage betreiben will und komplett falsche Bestellmengen in den Prozess „einbringt“ – etwa das Fünffache an Material ordert – , dann  können enorme Schäden für das Unternehmen entstehen. Damit ist klar: Allein die technischen Module, wie Firewalls etc., reichen nicht aus, da muss die Applikations-Software mitspielen. Dazu muss im ERP-System eine Ebene geschaffen werden, auf der der Entscheider und Business-Spezialist diese Sicherheitsvorgaben umsetzen kann. Es geht darum, komplexe Sachverhalte so einfach zu gestalten, dass sie für den Business-Entscheider beherrschbar sind.

Rainer Huttenloher