Software und Strategien für den erfolgreichen Mittelstand

Künftige Rolle von ERP-Software aus der Cloud

„Hybride Modelle scheinen am leichtesten implementierbar zu sein“

Dirk Bingler, Sprecher der Geschäftsführung bei der GUS Deutschland; Quelle: GUS Deutschland

ERP-Lösungen aus der Cloud sind flexibel – Module und Benutzerlizenzen lassen sich kurzfristig hinzubuchen bzw. kündigen –, mittlerweile aber genauso ausgereift und komplett wie die entsprechenden Varianten aus dem eigenen Rechenzentrum. Lösungen aus der Cloud lassen eine schnelle Reaktion auf aktuelle Marktgegebenheiten zu.

Dies kommt vor allem kleineren Unternehmen entgegen, die zum einen keine große Erstinvestition für die notwendige Infrastruktur sowie die Softwareanschaffung vornehmen wollen und sich zum anderen nicht um Wartung und Pflege kümmern möchten. Aber auch Unternehmen mit saisonal stark schwankenden Auslastungen profitieren davon. Daher stellt sich die Frage, wie die künftige Rolle von ERP-Software aus der Cloud aussehen wird.

Gemischt ist Trumpf

Stephan Reisser, Beratungsleiter Innovations bei der All for One Steeb AG; Quelle: All for One Steeb

„Die Zukunft gehört flexiblen Systemen, die auch in gemischten Deployment-Umgebungen betrieben werden können – sowohl On-Premise als auch in der Cloud und in hybriden Systemen“, prognostiziert Frank Naujoks, Produktmanager Microsoft Dynamics AX bei Microsoft. Unternehmenskritische Daten, etwa aus der Buchhaltung, können sowohl im firmeneigenen Rechenzentrum als auch in einer Private-Cloud-Umgebung verwaltet werden. „Für Marketing- und Vertriebskampagnen nutzen Unternehmen besser frei skalierbare Public-Cloud-Angebote“, empfiehlt Naujoks, „die ihnen jede Freiheit und Performance bieten, die sie für ihre Aktivitäten benötigen. Entwicklungs- und Testsysteme kommen idealerweise aus der Cloud, weil sie sich ohne Hard- und Software-Voraussetzungen realisieren und für unterschiedliche Systeme testen lassen.“ Doch der Anteil von Cloud-Technologien könne variieren – je nach Anforderung des Kunden. „Aber es ist aus meiner Sicht für Unternehmen auf der Suche nach zukunftssicheren ERP-Systemen ein absolutes Ausschlusskriterium, solche Cloud-Optionen nicht abrufen zu können“, stellt Naujoks fest.

Für den Sprecher der Geschäftsführung bei der GUS Deutschland, Dirk Bingler, steht der produzierende Mittelstand in Deutschland ERP-Systemen aus der Public Cloud nach wie vor skeptisch gegenüber: „Je produktionsnäher ein Unternehmen ist, desto weniger affin ist es für die Cloud. Eine flächendeckende Verlagerung zentraler Produktionsprozesse in die IT-Wolke ist daher auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Bei anderen Anwendungen, wie CRM- oder Office-Diensten, setzt aber auch der Mittelstand zunehmend auf die Cloud.“ Vor diesem Hintergrund geht er davon aus, dass sich mittelfristig hybride Modelle, also Kombinationen aus Cloud- und On-Premise-Lösungen, durchsetzen werden: „Unternehmen betreiben den Kern ihrer ERP- und MES-Systeme weiterhin lokal vor Ort oder in einer privaten Cloud, beziehen aber zusätzliche Services nach Bedarf aus dem Netz.“

Bei mesonic zeichnet sich ein anderes Bild ab: „Wir gehen davon aus, dass die Bedeutung von Lösungen aus der Cloud zunehmen wird. Schneller Datenzugriff jederzeit und von überall ist bereits ein zentraler Bestandteil des modernen Arbeitens und wird dies künftig noch mehr sein“, erläutert Claudia Harth, Marketingleitung bei mesonic. „Eine vollständige Ablösung des ‚On-Premise ERP‘ durch die Cloud ist allerdings mittelfristig nicht zu erwarten. Dafür stehen viele Unternehmer der Cloud noch zu skeptisch gegenüber, speziell was den Sicherheitsaspekt anbelangt. Jedoch wird bereits häufig ein Mischmodell angewandt, die Hybrid Cloud, bei dem die Software zwar auf einem unternehmenseigenen Server installiert ist, der Zugriff jedoch auch über mobile Endgeräte bzw. Webbrowser erfolgt. Damit verbindet die Hybrid Cloud die Vorteile beider Lösungen.

Auch für Stephan Reisser, Beratungsleiter Innovations bei der All for One Steeb AG, fährt der Zug klar in Richtung Hybrid Cloud. „Der Service Provider ist daher vor allem in puncto Orchestrierung gefordert. On-Premise-Betrieb vor Ort im Rechenzentrum des Kunden, Private-Cloud-Betrieb beim externen Service Provider und gezielte Zuschaltung von Public-Cloud-Ressourcen müssen immer nahtloser zusammenspielen“, stellt Reisser fest. Interessant sei dabei: „Made in Germany wird zunehmend auch für die globalen Public Cloud Provider zum Muss, so dass sie ihre Produktionskapazitäten in Deutschland massiv ausbauen. Denn hier lassen sich Skalierungsmöglichkeiten, Leistungs- und Kostenvorteile generieren, die ein Anwenderunternehmen isoliert kaum darstellen kann. Auch der gut ausgebaute Rechtsrahmen in Deutschland mit seinen hohen Hürden in puncto Datenschutz und Datensicherheit dürfte Business Software aus der Cloud weiter voranbringen.“

Individualität

Oliver Villwock, Consulting Director mit Fokus SAP-Architektur bei cbs Corporate Business Solutions; Quelle: cbs

Für Oliver Villwock, Consulting Director mit Fokus SAP-Architektur bei cbs Corporate Business Solutions, wird für jedes Unternehmen die Antwort individuell ausfallen müssen: „Sie erfordert die eingehende Betrachtung einiger Schlüsselfragen in Bezug auf die künftigen Anforderungen an Prozesslandschaft und Betriebsmodell. Eine dieser Fragen zielt auf den Umfang und den Reifegrad der Standardisierung der unternehmenseigenen Prozesse ab. Hinzu kommt die benötigte Flexibilität in puncto Erweiterungen oder Modifikationen. In diesem Kontext können die eigenen Vorstellungen schnell von der Cloud-Realität abweichen.“

Nach wie vor dient nach seiner Einschätzung der Cloud-Begriff als moderner Deckmantel unterschiedlichster Dienstleistungskombinationen. Der Begriff könne vom bereits bekannten Hosting (Infrastructure-as-a-Service) bis hin zur externen Softwarelösung (Software-as-a-Service) alle Betriebsvarianten abdecken. Allen Anbietern und Dienstleistern sei jedoch daran gelegen, ihre Betriebs- und Supportprozesse möglichst kosteneffizient – also standardisiert – abzuwickeln. „Das bedeutet für die Nutzer eine Restriktion des angebotenen Service- oder Prozessumfangs bzw. von dessen Anpassungsmöglichkeiten“, führt Villwock aus. „Darüber hinaus gilt es, im Zuge der Integration in die bestehende IT-Architektur und Schnittstellenlandschaft physikalische Belange wie Bandbreiten, Latenzen und nicht zuletzt die Sicherheit zu betrachten.“

Mit Blick auf ein typisches Kundenprofil der cbs lässt sich zum Thema On-Premise-Einsatz von ERP-Systemen Folgendes sagen: „Für produzierende Unternehmen im gehobenen Mittelstand oder im Umfeld eines Konzerns ist der Betrieb eines ERP-Systems im eigenen oder einem angemieteten Housing- oder Hosting-Rechenzentrum aufgrund diverser Abhängigkeiten sowie der Schnittstellenintegration zur Gewährleistung von Business Continuity derzeit alternativlos“, bekräftigt Villwock. „Unabhängig vom Standardisierungsgrad gewährleistet diese Strategie viel Flexibilität in Bezug auf die eigene Prozesslandschaft. Zudem behält der Kunde auch die Hoheit über Ausprägung und Release-Stand des eingesetzten ERP-Systems und löst sich von Softwarezyklen und möglichen Prozessfesseln, wie sie etwa bei SaaS auftreten können. Cloud-Lösungen werden selektiv zur Abwicklung von Supportprozessen – zum Beispiel e-Invoicing, Außenhandel, Recruiting – möglichst als Gesamtprozess ausgelagert, um den Fokus auf die Kernprozesse zu schärfen.“

Mit der notwendigerweise fortschreitenden Standardisierung der Datenstrukturen (RAMI 4.0 Information Layer) und der angebotenen Funktionen (RAMI 4.0 Functional Layer) werden Cloud-basierte ERP-Anwendungen schrittweise möglich. Karl Tröger aus dem Produktmarkeing der PSI Automotive & Industry ist überzeugt, „dass es dabei nicht in jedem Fall darum gehen wird, alle Funktionen als Service zu beziehen. Die nahtlose Integration standardisierbarer Funktionen und Daten aus der Cloud mit individuellen branchentypischen oder unternehmensspezifischen Anwendungen On-Premise kann ein gangbarer Weg sein.“

Einen weiteren wichtigen Aspekt stellt laut Tröger die dynamische Organisation temporär existierender Wertschöpfungsnetze dar. Diese wird sich nur über die Cloud umsetzen lassen. Die sich dort etablierenden sogenannten Intermediäre vermitteln (wiederum standardisiert) zwischen den möglichen Partnern der Netzwerke. Punkt-zu-Punkt-Verbindungen sind mit zunehmender Dynamik nicht effizient herstellbar. Insofern bietet sich hier die Nutzung entsprechender Cloud-Services an.

„Generell ist zu erwarten, dass standardisierte Anwendungen mehr und mehr aus der Cloud und damit nach einem nutzungsbasierten Modell bezogen werden“, ist sich Tröger sicher. Allerdings gebe es noch eine Reihe offener Fragen: „Beispielhaft genannt sei hier der Umgang mit den in der Cloud gespeicherten Daten. Mit der Verfügbarkeit unterschiedlicher Plattformen muss die Möglichkeit des Transfers von Daten zwischen den genutzten Plattformen oder auch zurück in die unternehmensinterne IT sichergestellt werden (und umgekehrt). Standardisierungsaspekte spielen hier eine große Rolle“, erklärt Tröger – und: „Umfangreiche Transformationen der Daten sind nicht zielführend.“

Die Zukunft werde zeigen, welche Nutzungsprinzipien sich durchsetzen werden. „Hybride Modelle, also die Integration öffentlicher Anwendungen und deren Daten mit ,privaten‘ Systemen, scheinen mittelfristig am leichtesten implementierbar zu sein“, ist sich Tröger sicher. Dies betreffe kommerziell orientierte Systeme in gleichem Maße wie die Auftragsabwicklung mit ERP- und MES-Lösungen.

Release-Wechsel

Ein vollständiges Verschwinden der On-Premise-Systeme bis 2020 zeichnet sich für Andreas Anand, Vice President Consulting Services EMEA bei Infor, nicht ab, denn ERP-Lösungen seien oft länger als ein Jahrzehnt im Einsatz. „Natürlich sind Softwarewechsel immer mit Transaktionskosten verbunden, die manchen Geschäftsführer abschrecken“, stellt Anand heraus. „Andererseits hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass mittel- bis langfristig an der Cloud kein Weg vorbeiführt. Unternehmen werden daher zunehmend Cloud-Software einführen oder zumindest Hybridmodelle nutzen – reine On-Premise-Neuanschaffungen werden zur Seltenheit. Die größten Anreize in Form von Einsparpotenzial bestehen für Unternehmen mit großen Serverparks. Auch Geschäftsmodelle, die ein Höchstmaß an Flexibilität erfordern, profitieren von Software aus der Cloud. Anbieter, die auf besondere Anforderungen einzelner Branchen eingehen können, sind hier deutlich im Vorteil.“

Für Martin Gunnarsson, Product Director bei IFS, gehört die Möglichkeit, ERP-Software auch in der Cloud zu betreiben, heute zu den obligatorischen Auswahlkriterien: „Die meisten Unternehmen möchten diese Option haben; einige lassen ihre ERP-Lösung dann tatsächlich in der Cloud laufen.“ Bei einer ERP-Auswahl in 2020 werde die Cloud die neue Normalität sein, so Gunnarsson weiter: „Unternehmen werden die Cloud als naheliegende Wahl sehen. Doch es wird noch immer Unternehmen geben, die aus bestimmten Gründen eine On-Premise-Lösung bevorzugen. Auch die Preismodelle werden gemischt sein. Einige Kunden werden ein SaaS-Preismodell für den laufenden Betrieb in der Cloud wählen, andere weiterhin die Lizenzen vorab kaufen.“

Ohne IT ist es heute schon schwer, überhaupt noch geschäftstätig zu sein, morgen wird sie die Luft zum Atmen sein – so lautet die Aussage von Henrik Hausen, Geschäftsführer all4cloud GmbH & Co. KG. Darum müsse das ERP-System der Zukunft hochverfügbar sein – und zwar uneingeschränkt, ohne Wenn und Aber: „Jederzeit muss es in der Lage sein, Signale zu empfangen oder zu versenden. Zero-Downtime muss garantiert werden. Darüber hinaus wollen Unternehmen sicher sein, dass weder automatisierte Abläufe noch nicht autorisierte User Zugriffe auf ihre Prozesse und Systeme haben.“

Nach seiner Überzeugung können sich eigenständige Unternehmen dies vermutlich nicht leisten: „Denn mit den Sicherheitsanforderungen steigen die Kosten für qualifiziertes Personal und für Sicherheitslösungen. Um die Kosten in Grenzen zu halten, werden Unternehmen die Leistungen zunehmend einkaufen – damit wären wir in der Cloud angekommen“, lautet sein Credo. 

„Die Sicherheitsmechanismen der großen Anbieter sind sicherer als so ziemlich alles, was ein Unternehmen sich selber leisten kann und will“, fügt Hausen hinzu. Damit werde der „Kauf“ von nutzerbasierten Lizenzen immer weniger attraktiv. Die Bemessungen für den Nutzungsgrad eines IT-Systems werden sich immer stärker an der tatsächlichen Nutzung orientieren. Andernfalls sitzen Unternehmen bei der Veränderung von Geschäftsmodellen und Nutzungsstrukturen auf den Wartungskosten. Die Software verliert mit jedem Tag an Wert, falls man nicht immer wieder die neuen Releases nachzieht. Dagegen sei ein Unternehmen in der Cloud stets aktuell, sprich auf dem laufenden Release. „Das Thema der „schweren“ Release-Wechsel ist durch das Betriebsmodell und das Grundverständnis echter Cloud-Lösungen eliminiert“, gibt sich Hausen überzeugt. „Der eigentliche Nutzen entsteht künftig durch die Anzahl oder die Qualität der Prozesse.“

Rainer Huttenloher