Software und Strategien für den erfolgreichen Mittelstand

ERP 2020 aus der Sicht von SAP: Ulrike Raidl im Interview

„Was nutzen viele Daten, wenn kein Wert aus ihnen extrahiert werden kann?“

Ulrike Raidl, Solution Owner Core ERP bei SAP SE; Quelle: SAP

Erst die Digitalisierung der Unternehmen ermöglicht die vielzitierte Transformation der Unternehmen. Aus der Position des Marktführers erläutert Ulrike Raidl, Solution Owner Core ERP bei SAP SE, gegenüber dem Midrange Magazin (MM), welche Anforderungen der Markt an ein zukunftssicheres ERP-System stellt. Echtzeitfähigkeit allein reicht nach ihrer Ansicht nicht aus. Denn die Prognose in modernen Systemen müsse deutlich mehr leisten als nur die Verarbeitung aller eingehenden Daten in Echtzeit. Weiterreichende Vorhersagen, wie etwa für die Absatzerwartung der kommenden 12 Monate, basierend auf einer Kombination aus Unternehmensdaten und externen Marktdaten, seien erforderlich.

Um ein erfolgreiches Datenmanagement im ERP-Umfeld aufsetzen zu können, empfiehlt Raidl eine „Single Source of Truth“. Darunter versteht sie, dass alle Beteiligten – also Menschen und IT-Systeme – mit einer zentralen Datenbasis arbeiten. In der Vergangenheit wurde das oft durch mangelnde Flexibilität von Systemen und Berichtszyklen sowie durch Systemstrukturen erschwert, bei denen eine Konsolidierung der Daten erst zum Monats- oder Quartalsabschluss möglich war.

ERP 2020

MM: Wie muss ein ERP-System gebaut sein, um keine „Bremse“ darzustellen?
Raidl: Digitalisierung ist ein sehr breiter Begriff und wird in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Im Kontext betriebswirtschaftlicher Software steht „Digitalisierung“ vor allem für die „Ausschöpfung der vorhandenen Automatisierungspotenziale“. Das bedeutet eine Minimierung manueller Interaktionen in Geschäftsabläufen, was vor allem eine wesentlich flexiblere, generalisierte Prozesstechnologie erfordert. Ein ERP-System muss daher die Flexibilität bieten, historisch gewachsene, vordefinierte und statisch gewordene Prozessabläufe mit minimalem Aufwand zu verändern.

MM: Schlagworte wie Industrie 4.0, Multi-Channel-Strategien, Smart Services oder auch die „App-ifizierung“ von Business Software werden von den Marktforschern ins Spiel gebracht, wenn sie „ERP 2020“ beschreiben. Welche Entwicklungen sehen Sie als relevant an und wie lässt sich dabei auch die Komplexität beherrschen?
Raidl: Sicher sind all die genannten Trends bereits heute von Relevanz für bestimmte Branchen. Die derzeit breiteste und „reifste“ Marktentwicklung sehe ich bei den Business Apps. Der rasende technologische Fortschritt in diesem Bereich zeigt sich allerorten und macht vielen Endanwendern das Leben leichter.

MM: Zeichnen sich hier nur positive Aspekte ab?
Raidl: Nein, denn gerade hier lauert auch eine Komplexitätsfalle! Werden solche Apps ohne Berücksichtigung einer konsistenten Strategie und Architektur implementiert, führt das zu einem inkonsistenten Wildwuchs, der einen sehr hohen Administrationsaufwand erfordert. In diesem Zusammenhang sind insbesondere wir ERP-Anbieter gefordert, unseren Kunden ganzheitliche Konzepte wie etwa SAP Fiori anzubieten.

MM: Wie lässt sich die Komplexität von den Anwenderunternehmen in den Griff bekommen?
Raidl: Grundsätzlich kann man das nur dann beherrschen, wenn alle an einem Prozess Beteiligten – innerhalb und außerhalb der Unternehmensgrenzen – ein gemeinsames technologisches und betriebswirtschaftliches Prozessverständnis haben. Nur so können Standards etabliert werden, die die technologische sowie die betriebswirtschaftliche Ebene berücksichtigen. Diese unternehmensübergreifende, nicht-proprietäre Standardisierung von Geschäftsprozessen ist sicherlich die nächste Ausbaustufe von Business Software. Ein Beispiel hierfür sind sogenannte Business Networks. Sie unterstützen Unternehmen bei der Optimierung ihrer Kunden- und Lieferanteninteraktionen und beim Ausbau der Automatisierung ihres Geschäftsbetriebs.

MM: Wie lässt sich bei den gestiegenen Anforderungen an ein ERP-System der Zukunft all das in einer sinnvollen Einführungsphase umsetzen?
Raidl: Entscheidend ist die Qualität des mit der Software gelieferten Business Content. Softwarepakete müssen Out-of-the-Box bereits Prozessvariation in vordefinierter und parametrisierbarer Form beinhalten.

Rolle der Best Practices

MM: Welche Rollen spielen hier die „Best Practices“?
Raidl: SAP war in diesem Bereich ein Pionier – zunächst mit den SAP Best Practices, bestehend aus Software und Content. Seit vielen Jahren bieten wir nun Komplettpakete an, die sogenannten Rapid Deployment Solutions, die Software, Content und Implementierung als Gesamtpaket umfassen. Um solche Angebote sinnvoll nutzen zu können, müssen sich Unternehmen auf Standardisierung einlassen. Das bedeutet vor allem, dass Geschäftsprozesse genau analysiert werden müssen und der Standard nur dann verlassen werden sollte, wenn der Prozess einen echten Mehrwert für das Unternehmen darstellt. Der nächste Schritt zu noch schnellerer Einführung und höherer Standardisierung führt dann in die Cloud. Dort werden künftig mehr und mehr interaktive Masken verfügbar sein, sogenannte „self-lead configuration“-Routinen, die es Endanwendern in vielen Bereichen ermöglichen werden, die Systemkonfiguration selbst durchzuführen.

MM: Welche Rolle wird ERP aus der Cloud künftig spielen?
Raidl: Wir sehen schon heute in einigen Märkten und Branchen einen klaren Trend zur Cloud. Denken Sie etwa an die öffentlichen Verwaltungen in Australien, die angehalten sind vorrangig Cloud-Angebote zu nutzen. Gleichzeitig gibt es allerdings Branchen und Länder, für die die Cloud aus unterschiedlichen Gründen derzeit noch keine Alternative zum On-Premise-Betrieb bietet. Die zunehmende Vernetzung von Geschäftsabläufen über Business Networks wird die Adaption von Cloud-Angeboten weiter beflügeln, zumal sie auch die Akzeptanz technologischer und betriebswirtschaftlicher Standards auf der Daten- und Prozessseite vorantreiben wird. Ein weiterer Grund, warum wir erwarten, dass die meisten Unternehmen mittelfristig zumindest Teile ihrer ERP-Funktionalität aus der Cloud beziehen werden, ist der zunehmende Kostendruck.

MM: Wie lässt sich die „Unternehmensnavigation mit ERP“ in komplett digitalisierten Umgebungen erreichen?
Raidl: Der ERP-Begriff hat seinen Ursprung in der Produktion und den materialbasierten Wertschöpfungsprozessen. ERP steht für Enterprise Resource Planning – also Planung der für die Produktion erforderlichen Ressourcen. Der Begriff der Ressource wurde später um monetäre und personelle Aspekte erweitert und ERP-Systeme wurden mit Funktionalitäten des Rechnungs- und Personalwesens ergänzt. In späteren Jahren erfolgten weitere Ergänzungen um Aspekte der Kundenbetreuung, der Lieferketten und für eine erweiterte Beschaffung. Mit zunehmender Digitalisierung sind heutige Wertschöpfungsketten jedoch noch deutlich komplexer und vernetzter geworden. Sie erfordern die Unterstützung durch alle Leistungsprozesse, so etwa auch durch servicebasierte Leistungen oder die Berücksichtigung digitaler Rechte. Zudem ist eine Bestandsaufnahme in Echtzeit notwendig, die es ermöglicht, gut informierte Entscheidungen zu treffen und auf Veränderungen der volatilen globalen Märkte umgehend zu reagieren.

MM: „Prognosefähig durch ERP“ – auch diese Vorgabe sollten ERP-Systeme bestmöglich unterstützen. Wie schätzen Sie die Entwicklung in diesem Bereich ein?
Raidl: Entscheidungsunterstützung – sei es operational oder strategisch – und Prognose sind zentrale Themen im heutigen ERP-Markt! Denn was nutzen die vielen Daten, wenn kein aussagekräftiger Wert aus ihnen extrahiert werden kann? Die Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich In-Memory-Computing haben in dieser Hinsicht große Bedeutung für die Evolution von ERP-Systemen. Insbesondere die Verbindung transaktionaler und analytischer Daten auf einer einheitlichen Plattform ermöglichen grundlegende architektonische Veränderungen, die es Unternehmen ermöglichen, nach dem „Insight-to-Action“-Prinzip zu agieren. Die permanente Echtzeitkontrolle von unternehmenskritischen Werten, sogenannten KPIs, ermöglicht es, Probleme nicht nur in Echtzeit zu identifizieren, sondern sie auch umgehend zu lösen.

MM: Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Raidl: Denken Sie nur an komplexe Prozesse wie das sogenannte Material Requirements Planning. Hier wurde früher in einem mühsamen Batch-Verfahren, das zumeist nur wöchentlich über Nacht ausgeführt wurde, ermittelt, welche Materialbedarfe aufgrund der Auftragssituation anstehen und welche Materialien nicht ausreichend vorhanden sind. Moderne Systeme auf einer In-Memory-Datenbank erlauben diesen Prozess in Echtzeit.

Realtime

MM: Reicht die Echtzeitfähigkeit alleine nicht aus?
Raidl: Nein, denn die Prognose in modernen Systemen muss deutlich mehr leisten als nur die Verarbeitung aller eingehenden Daten in Echtzeit. Weiterreichende Vorhersagen, wie etwa für die Absatzerwartung der kommenden 12 Monate, basierend auf einer Kombination aus Unternehmensdaten und externen Marktdaten, sind erforderlich und bereits Realität. Hierzu werden statistische Modelle eingesetzt, die basierend auf der Verarbeitung von Realtime-Datenflüssen aus dem internen und externen Unternehmensumfeld einer permanenten Überprüfung und Anpassung bedürfen.

MM: Wie lässt sich ein erfolgreiches Datenmanagement im ERP-Umfeld aufsetzen, das zum Unternehmenserfolg beitragen kann?
Raidl: Idealerweise ist technologisch sichergestellt, dass eine sogenannte „Single Source of Truth“ existiert. Das heißt, dass alle Beteiligten – also Menschen und IT-Systeme – mit einer zentralen Datenbasis arbeiten. In der Vergangenheit wurde das oft durch mangelnde Flexibilität von Systemen und Berichtszyklen sowie durch Systemstrukturen erschwert, bei denen eine Konsolidierung der Daten erst zum Monats- oder Quartalsabschluss möglich war.

MM: Wer hat die Oberhoheit über die Daten?
Raidl: Moderne ERP-Systeme ermöglichen einen direkten Zugriff der Endanwender auf Echtzeitdaten. Durch In-Memory-Technologie entfällt die Trennung zwischen analytischen und transaktionalen Daten. Das ermöglicht es den Entscheidern eines Unternehmens, auf alle für sie relevanten Daten in Echtzeit zuzugreifen und selbst Berichte über alle für sie relevanten Facetten zu erstellen. Durch zentrale Berechtigungskonzepte ist sichergestellt, dass jeder Anwender nur die für ihn relevanten Informationen erhält.

Rainer Huttenloher