Software und Strategien für den erfolgreichen Mittelstand

Einsatz von ERP-Systemen in Logistik/Großhandel

Dominanz der Logistikkette braucht End-to-End-Lösungen

Diskutierten über den ERP-Einsatz in der Logistik/Großhandels-Branche: Ulrich Gauweiler (ITML), Godelef Kühl (Godesys), Moderator Rainer Huttenloher und Guido Grotz (Step Ahead), v.l.

Der Großhandel mutiert förmlich zum Dienstleister für seine Einzelhändler. Damit wird er zwangsweise auch mehr und mehr zu einem E-Commerce-Dienstleister und muss, je nachdem, welche Vertriebskanäle er bedient, auch näher an den Endkunden ran. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios diskutierten mit Godelef Kühl (Godesys), Ulrich Gauweiler (ITML) sowie Guido Grotz (Step Ahead) drei ERP-Experten über die Besonderheiten beim Einsatz von ERP-Systemen in der Logistik- und Großhandelsbranche.

Effizienz gefragt

Ulrich Gauweiler, Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung beim SAP-Partner ITML: „Mit einem Warenwirtschaftssystem alter Prägung lässt sich heute kein Blumentopf mehr gewinnen.“

„Die primäre Aufgabe eines ERP-Systems sieht folgendermaßen aus: Es muss die brachliegenden Effizienzpotenziale im Unternehmen erschließen“, so lautet das Credo von Godelef Kühl. Für den Gründer und Geschäftsführer von Godesys bedeutet das im Großhandel in erster Linie Automatisieren. „Als zweiter und gleichwertiger Aspekt kommt das Thema Compliance hinzu. Dabei dreht sich alles um Kundenverbindlichkeit – ist eine Ware lieferbar, wann ist sie lieferbar und wie kann ich sie auf ihren Wegen zum Verbraucher verfolgen?“.

Denn die Logistikkette habe viele Punkte, an denen Fehler auftreten können. Alles müsse nachvollziehbar sein, damit man die komplette Kette in den Griff bekommt. „Das ist der Haupttreiber in den meisten Logistikprojekten, die wir heutzutage abwickeln“, so Kühl. „Zudem sind viel mehr Ansprechpartner beim Anwender einzubeziehen. Denn es geht um das Durchdeklinieren der gesamten Supply Chain. Das ist sehr komplex und bringt entsprechend viel Aufwand bei der Einführung mit sich – nicht nur technisch, sondern auch organisatorisch.“

Maximale Integration gefordert

Eine ähnliche Ausgangssituation skizziert Ulrich Gauweiler, Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung beim SAP-Partner ITML: „Mit einem Warenwirtschaftssystem alter Prägung lässt sich heute kein Blumentopf mehr gewinnen. Nur mit maximaler Integration kann man die nötigen Anforderungen beherrschen. Unter maximaler Integration verstehe ich, den Kunden an der Prozesskette so zu beraten, dass sich der Aufwand für die Schnittstellen minimiert.“

Dazu biete ITML Sonderlösungen gerne mit an, um den Kunden die Möglichkeit zu geben, den internen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Und Gauweiler plädiert für den Mehrfachnutzen: „Es muss zum Beispiel bei Problemen im Rahmen der Paketverfolgung möglich sein, auch gleich die Kosten zu senken – also etwa zusätzlichen Frachtkosten vorzubeugen.“ Doch das solle dann nicht über drei Schnittstellen und nur bei einem externen Dienstleister zu sehen sein, sondern bereits im eigenen integrierten System. „Es geht dabei um klare Aussagen: Was kostet mich das, fallen eventuell Strafen an, wenn die Ware vier Stunden zu spät ankommt etc.“, erklärt Gauweiler. Derartige Funktionalitäten seien heutzutage zwingend erforderlich, und die Komplexität der ERP-Projekte sei damit recht hoch.

„Logistiker und Großhändler wünschen sich zwar die volle Integration, stehen dann aber vor der Herausforderung ‚Wie bilde ich das intern ab‘. Die beste Software hilft nichts, wenn die eigene Organisation damit nicht zurechtkommt – etwa weil ich die Mannschaft dazu nicht habe“, so die Erfahrungen bei ITML. „Da spielt es keine Rolle, welche Software zum Einsatz kommt. Wichtiger ist die Klärung der Frage, ob die Firma intern so organisiert ist, dass sich alle Anforderungen abdecken lassen.“ Oft werde neue Software eingekauft, doch die Mitarbeiter und die internen Prozesse seien nicht so gestaltet, dass alles zusammenpasst und sich die Herausforderungen damit lösen lassen. Und dann folge daraus oftmals die leidige Diskussion: Ist es nun ein Software- oder ein Organisationsproblem.

Öffnung nach außen bestimmt die Anforderungen

Für Guido Grotz, Vorstand der Step Ahead AG, geht es nicht nur um die Prozessketten innerhalb des Unternehmens, sondern auch um die Öffnung nach außen: „Wir sind der Meinung, dass der Großhandel ohne E-Commerce nicht funktioniert. Alle Großhandels- oder Handelsprojekte müssen heutzutage den Kunden als Stakeholder – also Beteiligten in der Gesamtprozesskette – einbeziehen. Dasselbe gilt auch für die Lieferanten.“ Generell hat es nach seiner Ansicht der Großhandel nicht leicht, er muss seine Chancen auch in Zukunft immer wieder neu finden. „Preisdruck und Effizienzerhöhung oder Optimierung in der Prozesskette sind ja schön und gut, aber es wird immer mehr Potenzial in Richtung Hersteller und Einzelhandel abwandern“, gibt sich Grotz überzeugt. „Doch ein passendes ERP-System kann dem Großhandel helfen, seine Daseinsberechtigung sicherzustellen.“

 

Zusatzservices

Guido Grotz, Vorstand der Step Ahead AG: „Beim Retouren-Management handelt es sich um einen sehr kostspieligen Prozess und eine komplexe Aufgabenstellung für den Großhändler.“

Als einen weiteren Trend – und der ergebe sich im Zuge der Supply Chain eher so nebenbei – sieht Grotz mittlerweile das Retouren-Management. „Dabei handelt es sich um einen sehr kostspieligen Prozess und eine komplexe Aufgabenstellung für den Großhändler, denn er muss sich auf den Kunden und gleichzeitig auf seine Hersteller beziehungsweise Lieferanten einstellen. Sobald viele Lieferanten ihm viele verschiedene Rückgabemodalitäten und Vorgehensweisen aufzwingen, wird die Sache sehr kompliziert.“ Die anderen Prozesse im Bereich der Logistik verortet Grotz eher im Bereich „Commodity“. Wichtig sei beim ERP-System, dass alles aus einem Guss und entsprechend gut integriert ist.

Preiskampf nicht oberste Priorität

Das Thema Preiskampf im Großhandel sieht Kühl nicht an erster Stelle der Herausforderungen: „Aus unseren Erfahrungen mit vielen Großhandelsprojekten ist festzustellen, dass der Handel heutzutage mehr verdient als noch vor zehn Jahren. Seit 2008/2009 investiert der Handel mehr und hat dadurch einen höheren Automatisierungsgrad erreicht – und dabei hat man die Prozesskosten heute wesentlich besser im Griff.“ Kühl sieht hier sogar ein modifiziertes Anforderungsprofil: Weil die meisten das Thema Mehrwert in der Supply Chain besser spielen, könne man argumentieren, dass der Begriff Großhandel nicht mehr so recht passe. Er mutiere förmlich zum Dienstleister für seine Einzelhändler. Damit wird er zwangsweise auch mehr zum E-Commerce-Dienstleister und muss – je nachdem, welche Vertriebskanäle er bedient – auch näher an den Endkunden ran. Damit bekomme er auch die Retouren-Problematik zu spüren.

Auf der anderen Seite gibt es das Thema Eigenmarken, so Kühl: „Hier spielen die meisten Großhändler mittlerweile auch mit. Sie definieren sich, indem sie zwischen Einkauf und Verkauf genügend ‚Luft‘ haben, dass sich diese Sache rechnet.“ Doch dazu sei eine IT-Architektur nötig, die dynamisch ist: „Ein schwerfälliger Monolith kann hier nicht punkten. Denn der Großhändler ist permanent gezwungen, seine Prozesse zu optimieren und sich über bessere Geschäftsabläufe vom Wettbewerb abzuheben – und das muss die Software mitmachen.“

Geschäftsprozesse müssen agil sein

Für die Anwender habe das zur Folge, so Kühl, dass sie sehr viel Know-how aufbauen müssen und die Schnittstelle zwischen dem Business und der IT verstärkt heranziehen, um optimale Lösungen zu bekommen. „Aus diesen Gründen muss die ERP-Software in der Lage sein, Geschäftsprozesse ‚on the fly‘ ändern zu können“, gibt Kühl zu Protokoll. „Das läuft am besten über ein grafisches Design des Workflows, den die Software dann auch konkret und ohne zusätzliche Programmierung umsetzen sollte. Aber nicht jedes ERP-System ist dazu in der Lage.“

Generell biete eine derartige Architektur einige Vorteile: Damit könne man sich auf die verschiedenen Kundenszenarien besser einstellen – ein wichtiger Aspekt laut Kühl: „Eine einmal entworfene Vorgehensweise wird keine zehn Jahre Bestand haben – heute ist alles viel kurzlebiger.“

Wenn der Großhandel heutzutage mehr verdient, muss er genau wissen, wo er Profit machen kann. Für das ERP ergibt sich daraus die Forderung, alles „End to End“ abdecken und sämtliche Detailinfos und Unternehmenskenngrößen liefern zu können. Es darf keine versteckten Kosten mehr geben. Lösen lässt sich diese Herausforderung im Zuge der Prozesskostenrechnung, so Kühl: „Die Grunderkenntnis lautet, dass man heute eher kleinere Losgrößen hat, die es zu versenden gilt. Somit ist viel häufiger interaktiv Ware zu verteilen. Das bedeutet, dass die Prozesskosten die einzige Stellgröße sind. Doch die bereiten auch die größten Schwierigkeiten.“

Dagegen könne man mittlerweile bei der Aufgabenstellung „Wie bekomme ich am schnellsten und kostengünstigsten eine Ware von A nach B?“ nicht mehr viele Vorteile herausarbeiten. Da seien, so Kühl, hierzulande viele namhafte Wettbewerber in der Logistik aktiv, die alles schon recht gut ausgereizt haben. Daher gehe es für den Großhändler um den Mehrwert, den er zusätzlich liefern kann: „Wenn man zum Beispiel Waren aus China bezieht, macht es Sinn, den Seecontainer zu füllen, ehe er auf die Reise geht. Dann kann der Großhändler bessere Losgrößen aus verschiedenen Lieferungen zusammenstellen.“

Logistiker sehen sich nach Zusatzdiensten um

Ein weiteres Praxisbeispiel benennt Kühl mit TNT Express, einem reinen Transportdienstleister. „TNT packen Mehrwertdienste in die Transportleistung, es kommen bei der Ersatzteillieferung auch noch technische Dienstleistungen dazu, die der Transportmitarbeiter übernimmt – wie zum Beispiel die Router-Installierung. Das ERP-System muss das einerseits unterstützen und andererseits auch schnell umsetzen können.“ Für Kühl ergibt sich daraus auch eine klare Trennung: „Unsere Kunden verstehen mehr von ihrem Geschäft. Wir als ERP-Hersteller müssen übersetzen helfen und geeignete Werkzeuge und Technologie bereitstellen. Das sollte dann auch ergonomisch zum Endanwender im Unternehmen passen. Denn der kennt nicht die tiefsten Tiefen der IT – er soll die IT bedienen können und zwar effizient.“

 

Standardisierung

Godelef Kühl, Gründer und Geschäftsführer von Godesys: „Die Grunderkenntnis lautet, dass man heute eher kleinere Losgrößen hat, die es zu versenden gilt. Somit ist viel häufiger interaktiv Ware zu verteilen. Das bedeutet, dass die Prozesskosten die einzige Stellgröße sind. Doch die bereiten auch die größten Schwierigkeiten.“

Wenn die Anwender viel mehr Prozesse automatisiert haben wollen, resultieren daraus die gefürchteten langen Einführungszeiten. Hier zeichnet sich für Ulrich Gauweiler ein Trend ab: „ERP-Anwender setzen in den Kernprozessen wieder mehr auf den Standard – also weniger Sonderfälle. Allerdings haben viele große Mittelständler auch ganz spezielle Prozesse, die nicht im Standard abgebildet sind. Damit unterscheiden sie sich von der Konkurrenz.“

Als den prinzipiellen Unterschied zwischen „großen Großhändlern“ und „kleinen Großhändlern“ resümiert Gauweiler: „Die ‚kleinen‘ haben oftmals mehr Prozesse – dazu ein Beispiel: Bei Amazon gibt es lediglich drei Liefermethoden, mehr geht nicht. Die Kleinen müssen flexibler sein – sie richten sich nach den jeweiligen Kunden.“ Hier kommt für Gauweiler allerdings die Beratungskompetenz des ERP-Herstellers ins Spiel: „Wenn ein ERP-Hersteller beim Einführen eines ERP-Systems dem kleinen Großhändler erklären kann, dass er weniger Aufwand und somit auch weniger Kosten hat, wenn er nicht mehr wie bisher 25 verschiedene Liefermethoden unterstützt, sondern dass er auch sehr gut mit fünf Varianten auskommen kann, dann nehmen das die Unternehmen gut an.“

Standardisierung reduziert Komplexität und Kosten

Bei der Fokussierung auf den Standard stellt sich die Frage, was dieser Standard denn im jeweiligen Fall entspricht. Für Gauweiler ist es immer der Standard, den der ERP-Hersteller mit seiner Software ‚out oft he box‘ unterstützt: „Im Verlauf des Auswahlprozesses hat sich der Anwender für ein ERP-System entschieden. Dabei hat er auch festgestellt, welches am besten zu seinen Anforderungen passt. Es wurde ein Prototyp erstellt und daraus ist für den Anwender ersichtlich, dass der ERP-Hersteller die Prozesse versteht und diese Anforderungen abdecken kann. Nach einer derartigen Vorarbeit fällt die Entscheidung natürlich leichter, nahe am jeweiligen Standard zu bleiben. Die Vorgabe, über die Best Practices des betreffenden ERP-Herstellers zu gehen, setzt sich schon durch.“

Der Einsatz der Vorgaben nach den Best Practices bringt jedoch kaum Wettbewerbsvorteile – daher die Frage, ob die Best Practices nur da Sinn machen, wo der Kunden eher unter dem Durchschnitt agiert?
Hier sieht Kühl einen klaren Widerspruch: „Der Kunde nutzt häufig Standardprozesse. Doch ERP lebt davon, dass man eine Individualisierung von Standardprozessen ermöglichen kann. Das ist ein wesentlicher Treiber.“

Aber Kühl gesteht auch ein, dass die ERP-Projekte im Verlauf der letzten Jahre stark an Komplexität zugenommen haben. Der Grund liegt auf der Hand: „Der Individualisierungsgrad – also die Möglichkeit der Abgrenzung gegenüber dem Wettbewerber – ist ganz entscheidend für die Einführung. Allerdings ist auch Fakt, dass der ERP-Anbieter mehr Profit mit dem Verkauf der Softwarelizenzen macht und weniger mit der Einführungsdienstleistung. Jedoch wird dieser Anteil von Jahr zu Jahr größer.“

Rainer Huttenloher